Die digitale Gesellschaft ist eine Minderheit

Toleranz BitteIch lebe in einer Region, deren Dialekt ich nicht spreche.
Ein Elternteil von mir ist aus seinem Heimatort in ein fremdes Land vertrieben worden.
Jemand von meiner Großeltern-Generation war im Außenlager eines Konzentrationslagers und im Zuchthaus wegen seines Widerstands gegen ein Regime inhaftiert.

Sind wir nicht immer in einer Situation, in der sich die Zugehörigkeit zu einer Herkunft, Gesinnung oder Orientierung herstellen lässt, die dazu führt, allein oder mit Wenigen gegenüber einer wesentlich größeren Gruppe mit anderer Ausrichtung zu stehen?

Nun nimmt sich die Gruppe der Landesrundfunkanstalten des Ersten Deutschen Fernsehens 2014 erstmals gemeinschaftlich des Themas Toleranz in einer ganzen Toleranzwoche an. Gedanklich, inhaltlich, organisatorisch wird eine ganze Woche mit redaktionellen Fernsehsendungen vorbereitet. Und entsprechend der Wettbewerbssitutaion mit anderen Sendern um die Gunst des Publikums wird dieser Programmschwerpunkt beworben. Die gewählten Mittel sind, verglichen mit den Motiven und Aussagen im Marketing der Wirtschaft, besonders international und im Kontext traditionelles Print vs. digitales Advertising betrachtet konservativ, beinahe mutlos.

ARD Themenwoche Toleranz Toleranzwoche Keyvisual

Menschen wie Du und ich – im Fernsehen

Dabei geht es um nur Toleranz, nicht um Akzeptanz. Und damit bricht, wäre es zu ahnen, nein geradezu erforderlich gewesen, ein Shitstorm im Social Web über die Programmmacher herein. Dabei ist noch keine Minute der geplanten Beiträge gesendet worden, geschweige denn, zur sorgfältigeren Sezierung in die ARD-Mediathek gestellt worden.

Immerhin huldigen doch etliche eben dieser Community doch gerade solche medialen Leuchttürme, die im TV ihre Brötchen mit gleichsam sensiblen wie Mut machenden Ansagen, Aussagen, Aufrüttlern, sei es Kleber, Gutjahr, oder vielleicht sogar noch das, was von Journalist @RegSprecher in seiner jetzigen Funktion übrig ist. Klar sind das ganz wenige prominente Grenzgänger zwischen Digital und TV (Digitalien und Ausstrahlien – arge Kalauer), schon allein wegen des entsprechenden Anteils an der Gesamtcommunitybevölkerung.

Aber FernsehredakteureProgrammverantwortliche und Moderatoren als Frontleute sind Menschen wie wir – nein, ich schreibe jetzt nicht: Digital Natives. Fernsehleute verfügen über ebenso viele Antennen in die Gesellschaft wie die Bandbreite der Gesellschaft, vielleicht sogar noch mehr. Hinzu kommt mit Glück eine gesunde Halbbildung plus erweiterte Grundkenntnise über Themenrecherche, Programmvielfalt, Massenkommunikation und, schluck, Gespür für gesellschaftliche Relevanz, mit Glück gegenwärtig und künftig.

Heult doch. Nicht jetzt schon.

Warum lassen wir sie also nicht erstmal ihr Ding machen und, sicher so gut wie sie können, abliefern, bevor die lockende Kampagne beharkt wird, die kritikwürdig ist, doch sicher mit dem folgenden Toleranzanspruch abzugleichen ist?
Hier und jetzt bereits vor dem Start am 21. November von „Verfehlung“ zu sprechen, ist schlichtweg– verfehlt.

Umgekehrt scheinen offenbar eigene Angehörige der Community nur noch über Seismographen entlang dieser, oder, was viel dramatischer wirken würde, einen trügerischen Sonar ins Ego für das eigene Verständnis von Welt.

Eines zeigt die digitale Entrüstung immerhin ganz deutlich:

Die digitale Gesellschaft unterscheidet sich von der analogen um keinen Deut. Denn sie ist eins mit ihr, lediglich die Mittel der kommunikativen Verbreitung von Meinungen sind unterschiedlich – bevor die Leser der analogen Angebote zu digitalen Nutzern werden.

Ich stehe hinter dem Grundgedanken, zuerst Toleranz zu fördern, nicht weinend und keifend auf die Minderheitenseite hinüberzurutschen und – dabei womöglich blind vor Tränen und Wut – auszukeilen und auszuteilen. Denn dies ist immer der erste Schritt, besonders dann, wenn davon weit verbreitet nur wenig exisitiert – siehe: „Mein Haus, mein Garten, mein Auto (Berühren? In Deutschland?), mein Parkplatz, meine Vorfahrt.“

Was macht es uns schon aus, wenn andere Toleranz anders bewerben, als wir es uns vorstellen? Wann haben wir den Missionierungsgedanken des Fernsehens das letzte Mal für stark genug erachtet?

Erst wenn die letzte Minute gesendet ist, werdet Ihr wissen

Wenn die Themenwoche am Ende des Tages der letzten Sendeminute bewirkt hat, dass auch nur eine Handvoll Zuschauer angeregt wird, über mehr Mitmenschlichkeit und weniger negativer Einstellung gegenüber Vielfalt unter Menschen nachzudenken, und als Glanzpunkt Motivationen und Einstellungen verändern, ist schon mehr erreicht als jeder Einzelne vielleicht je schaffen könnte.

Andernfalls haben offensichtlich nicht schon 2014. Sondern erst.

Kraut oder Rüben: Der digitale Medienaufbruch hängt zwischen Crowdsourcing und Ankündigungsjournalismus [UPDATE]

Kraut und Rüben Krautreporter Online-JournalismusOnline-Journalismus ist in Deutschland auf einem beständigen Weg. Einem beständig traurigen. Das hat wahrscheinlich nicht mal etwas mit den Anfängen und dem Verlauf zu tun, welche die publizistischen Angebote, bezahlt und kostenlos, seit der allgemeinen Verfügbarkeit des Internet hierzulande durchlaufen haben. Dabei möchte ich nur kurz an die Anstrengungen für Bezahlgates, etwa denen des Handelsblatt und weiteren erinnern. Inzwischen ist nun auch Springer mit Bild Plus am Paywall-Start, wenngleich im Zuge der rührenden Gasthospitanz von Chefredakteur Kai Dieckmann, der dafür eigens mit Kind und Kegel auf Zeit in die digitale Sphäre des Silicon Valley umsiedelte. Nun haben sich unter großer Anteilnahme der Medien(-magazine) die Krautreporter mit einem neuen Finanzierungsprojekt an eine digitale Teilöffentlichkeit gewandt, um zahlende Leser zu gewinnen. Es soll

„Emotional, relevant, journalistisch“

zugehen. Ein solches Angebot ist interessant im Zuge diverser, partikularer und konzertierter Anstrengungen, so etwa der The Huffington Post Deutschland.

Ich meine aber: Angesichts des Postulats des eigenen Anspruchs und künftigen Umfangs ist es kaum abzusehen, ob dies ein Erfolg wird – besonders für tatsächlich interessierte Leser. Das eine ist es, die neue Union ambitionierter, manchmal herumkreiselnder Digitaljournalisten neben individuellen Vergütungssystemen wie Flattr einmal mittels einer fixen Idee eines Mediums zu unterstützen. Das andere aber wird es sein, hierin eine Alternative zu entdecken, die das bisherige Angebot leserorientiert ergänzt oder sogar aufwertet.

Jetzt mag man meinen, bei allem Niedergang der Tageszeitungen und schwindender Fachmagazine sei dies die richtige Form des medialen Ablasses, den wir verdient haben des digitalen Journalismus, der die Zukunft gehöre. Schmeißen doch die bösen Medien-Investoren Verleger ihre fest angestellten Redakteure in immer neue Konstruktionen an Auffanggesellschaften und Zeitungsredakteur-Pools. Und das allein des Profits wegen. Dabei liefen schwach bis uninteressierte Leser entweder im Laufe der letzten 15 Jahre in Scharen weg oder es kommen teils zu wenige, teils keine Käufer neuen aus den nachwachsenden Generationen hinzu. Dies ist allerdings mitnichten allein die Schuld der Anbieter gedruckter oder online verfügbar gemachter, aktueller Nachrichten- und angelehnter Informationsangebote. Vielmehr wandeln sich die Interessen der Konsumenten laufend schneller – oder werden seitens der Hersteller mobiler Geräte wie E-Reader, Smartphones, Tablets und bevorstehender Smart Devices in diese Neugier getrieben. Was eben noch Second Screen-Phänomen war, ist inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden. Was sich heute immer noch als Second Screen verbreitet, kann morgen schon nicht wegzudenkender Bestandteil eines Personal Main Screen, vielmehr von AnyScreen [UPDATE 13.06.2014], sein. Liefen Facebook und Twitter zuletzt noch auf dem Connected Device während des Tatort, ist heute im Smart TV bereits voll integriert. Und damit meine ich nicht solche fast schon rührende Videotext-Seiten á là „Teletwitter„.

Der Online Journalismus ist kaputt – NOT.

Zuletzt haben etliche traditionelle Medien, so etwa stern und ZEIT Online, schwerpunktmäßig investigativ recherchierende Teams verstärkt und angekündigt, die Ressorts kontinuierlich sowohl um digital/technologische als auch netzpolitische Themen zu erweitern. Meines Erachtens ist das der richtige Weg, um nicht nur mit der Zeit zu gehen, Leser zu halten, sondern auch, um neue zu gewinnen, die bisher Blogs gelesen oder sich überhaupt nicht für herkömmliche Medienangebote interessiert haben. Selbst Fernsehsender, öffentliche-rechtliche Sendeanstalten!, setzen erst behutsam, nun immer fokussierter auf Blogs, mehr Freiheiten für ihre Korrespondenten bei Twitter. Herausragendes Beispiel sind die Aktivitäten der Nahost-Korrespondenten der ARD, unter anderem im Blog des Studio Tel Aviv sowie auf Twitter durch Markus Rosch und Richard C. Schneider vom Fernsehen, Torsten Teichmann und Christian Wagner vom Hörfunk. Die Berichterstattung mündete zuletzt in der ebenso informativen wie umfassenden Dokumentation des Reportage-Projekts „Zwischen Hoffnung und Verzweiflung – der neue Nahe Osten“ von TV-Journalist Schneider zusammen mit Kollege Jörg Armbruster.

Zudem gibt es zahlreiche, seit Jahren digital orientierte, mitunter auf eigene Faust twitternde und Facebook-nutzende Redakteure, die ihre Artikel, daneben Links, Beobachtungen und Meinungen handwerklich einwandfrei aufbereitet verbreiten, so etwa Sven Stein vom Ressort der „BILD Digital„, Dr. Michael Spehr von der F.A.Z., Dirk Liedtke beim stern und der „Gadgetinspektor“ Thomas M. Kuhn aus der Wirtschaftswoche-Redaktion.

Daher meine ich, dass es ein neues Angebot nicht braucht, nicht zur Reparatur eines vermeintlich defekten Onlinejournalismus und auch nicht im – vielleicht auch nicht beabsichtigten – Nebeneffekt eines Druckmittel auf traditionelle Medien. Solange letztere – noch – die Zeichen der Zeit erkennen. Auch wenn diese schlecht zahlen oder unregelmäßig beauftragen und das Auftragsvolumen deswegen für viele, besonders freie Journalisten zusammen nicht reicht. Vielmehr bin ich überzeugt, dass Verlage unter den bekannt schwierigen Bedingungen in der Lage sein werden, mit weniger Formaten, Titeln und Plattformen einen Auftrag zu erfüllen und gesellschaftliche, soziale und politische Aufgaben der Information und Kontrolle per Berichterstattung weiterhin zu erledigen. Klar male ich hier ein Bild der schönen neuen Welt. Doch nur die Hoffnung darauf braucht es noch nicht, denn die Realität der vorhandenen Medien im Wandel ist chancenreich und positiv. So lohnt es sich 2014 immer noch, eine Tageszeitung aus dem Qualitätssegment zu abonnieren oder im Straßenverkauf zu erwerben. Oder in deren App zu bezahlen.

Neues Etikett, neuer Schlauch – aber der Wein?

Was mich besonders wenig überzeugt, betrifft im Prinzip der Kern eines Mediums: die geplante thematische Ausrichtung, gepaart mit dem ressortseitigen Anspruch, auch vor dem Hintergrund der bisherigen inhaltlichen Schwerpunkte der benannten Redaktionsmitglieder. So wirkt es auf dem Papier der Einsteigsseite wie ein allzu buntes Sammelsurium irgendwo zwischen einem Schwerpunkt Gesellschaft plus Politik bei wenig Wirtschaft und Ausland, Investigativjournalismus neueren Typs sowie Medien-Beleuchtung. Und viel digital Digitalem. Das reicht mir so nicht. Ebenso wenig sind vier Stories zu wenig für ein Medium, dass immerhin 900.000 Euro p.a. einsammeln will, über den Preis von 60 Euro pro Leser und Jahr.
– Ich werde Krautreporter nicht unterstützen.

UPDATE – 13.06.2014

Chapeau: Das Projekt hat nach einem furiosen Schlussspurt, unter anderem dank massiver Unterstützung durch Mehrfacherunterstützer wie der Rudolf Augstein Stifung, das angepeilte Finanzierungsziel von 15.000 Förderererreicht. Dem zolle ich Respekt. Dennoch bleibe ich dabei: Mit dem derzeitigen journalistischen Qualitätsangebot wird ein breites Spektrum der Berichterstattung, auch mit investigativem Anspruch, abgedeckt, dass von geneigten Lesern und Nutzern erst einmal entdeckt werden will.

UPDATE – 05.01.2015

Nach 3 Monaten Prolog hat Marc Wickel genauer hingeschaut, dabei in seinem Blog „Kraut von Rüben sortiert – Krautreporter durchgezählt [übrigens ein schöner Titel von Marc 😉 ] – und ist enttäuscht über den bisherigen Einsatz der von ihm favorisierten Journalisten:

Meine Meinung: Schlechte Recherche bei zu vielen Texten. Und den Rest finde ich größtenteils langweilig. Gut, das mit dem langweilig kann passieren und ist auch eher mein Geschmack. Ich hatte mir eben mehr Beiträge von Jens Weinreich […], Richard Gutjahr […] oder Thomas Wiegold […] erwartet. Und bei den Stücken, die ich mal gelesen habe […], habe ich bei zu vielen den Eindruck, dass die auch genauso gut in den Blogs der Autorinnen und Autoren hätten stehen können.

Soviel Tiefe traue ich mir nicht zu, da nur gelegentlich per RSS-Reader mitlese. Nur soviel: Es entspricht exakt meinen zuvor skizzierten Erwartungen.

– Titel / Foto: GEO

Mediale Impressionen: Röttgen, Klub Konkret, Luhukay, Of Monsters And Men

Norbert Röttgen ist kein Opfer der Willkür von Bundeskanzlerin Angela Merkel’s Leitlinienkompetenz. Er ist ein Machtpolitiker, der sich schlichtweg taktisch – nicht strategisch – verzettelt hat. Im Zusammenhang interessiert die Wähler in Nordrhein-Westfalen, und nur diese, Europapolitik nicht. Nichtwähler zählen ohnehin nicht, einerseits wie andererseits. Und Wähler braucht die Regierungskoalition langfristig, wenn’s um die Wurst Bundestagswahl 2013 geht, ist ein, wenngleich ein nordrhein-westfälischer To-Go-Politiker mit 26,2 % Wählerzuspruch bei 59,6% Prozent Wahlbeteiligung momentan nicht hilfreich genug.

Die ARD hat, wie alle öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, ein Generationenproblem hinsichtlich Programmgestaltung und Zuschauergunst. Die Lösung wird sicher nicht einzig und allein Social TV sein. Sowohl Joko & Klaas in neoParadise als auch rundshow erscheinen zwar gerade brennend, hell leuchtend, aber eben doch wie Stroh-Feuer.
Die fortlaufende Berichte über den State-of-Mind seitens des Elektrischen Reporter Mario Sixtus, der evangelisierende Partner-Auftritt der Mediathek-Redaktion zur re:publica 2012 – alles kleine Bausteine auf dem Weg, die Lücke zwischen Rentner-TV á là ZDF-Fernsehgarten und YouTube 24/7 und All Night Long zu schließen.
Das neue Format Klub Konkret, das am 2. Mai im ebenso neuen EinsPlus gestartet ist, wirkt wohltuend, überlegt, ambitioniert. Gute, weil brennende Themen, authentische, sichtbar handgemachte Begleitung im Social Web, keine – überflüssige – Überblogger-Begleitung zum Start, eine unprätentiöse, bisschen verspielte Moderatorin Franziska Storz und vor allem echte Menschen ohne jene Local Heroe-Attitüde. Das Magazin wirkt bislang sehenswert und passend, nicht nur weil es gesellschaftskrtisch und dosiert politisch ist, sondern da bisher offen und zukunftsweisend an Situationen und Themen herangeht wie die spanische Bewegung um die Proteste, sondern auf ganz positive Weise versucht, in Beiträgen und Interviews Lösungen zu finden.
Die verfügbaren Beiträge gibt’s auf YouTube; hier ist die Premiere-Folge zum Anschauen:

Jos Luhukay ist auf geheimer Mission: Er wird nun eine Aufgabe übernehmen, die von vornherein nicht von Otto Rehhagel zu lösen war – für Markus Babbel in seinem Sinne auch nicht. Der Job ist nicht, die Bundesliga-Mannschaft von Hertha BSC in die DFL-Bundesliga zu führen, sondern als Angestellter in der Geschäftsstelle von Michael Preetz zu wirken. Dessen Vorgänger Dieter Hoeneß habe ich einst in der Geschäftsstelle am Olympiastadion zufällig gemeinsam mit Uwe Seeler erlebt. Damals zu jetzt ist das ein Unterschied wie Tag und Nacht, auch, wenn’s Berlin ist.

Die isländische Band Of Monsters and Men („Little Talks“) ist schön und schräg unterwegs, nun auf Tour, erstmal in Nordamerika. Kürzlich sind die Newcomer im Morgenmagazin aufgetreten, auf der „kleinsten Fernsehbühne“ Europas, wie Moderatorin mehrfach wie überflüssig betonte. Skurril ist auch die Promotion-Planung ihres Plattenlabels: Die sorgt dafür, dass die sympathischen Isländer im Westküsten-Hinterland von Vancouver über Washington und dem „Live 105 BFD“ in Mountain View – wer erinnert sich hierbei an Netscape? – und Denver in sommerlichen Rocky Mountains bis runter nach Arizona touren und zudem ab durch die Mitte von England. Da passt zwischendurch locker noch das Noorderzon Festival in Groningen – Eintritt frei – rein.

Fernsehen, wir müssen reden: Die Social-Media-Quote wirst Du nie erfüllen [UPDATE]

We Gotta Move These Color TV’s, Lord

– Dire Straits: Money For Nothing (1988)

Fernsehen war früher

Heute haben die Intendanten der ARD beschlossen bekanntgegeben, dass die vorabendliche Talkshow von Thomas Gottschalk abgesetzt wird. Zwar wird das ambitioniert gestarte Format „Gottschalk Live“ nicht sofort vom Bildschirm verschwinden, wäre es doch annähernd die Höchststrafe für die Produktion der Alt-Internationalen von Grundy gewesen, doch die Schwächen waren in den Wochen vor Ostern allzu offensichtlich geworden. In einem letzten Kraftakt hatten die Macher versucht, mittels der eilig im März eingekauften Unterstützung des erfahrenen Redakteurs Markus Peichl in der inhaltlichen Qualität nachzubessern. Dem Zuschauer wurde die inhaltliche Weiterentwicklung, die im Prinzip als eine Aktion hinter den Kulissen hätte bleiben müssen, recht durchschaubar als Umbau verkündet. Zudem hatte Peichl nichts Besseres zu tun, nach seinem Einstieg öffentlich die ARD zu kritisieren – auch ein Weg, in die Hand zu beißen, welche die Sendung ernährt, oder die zumindest den Rücken stärken könnte. Ansatzweise legte die Transparenz in Social Media über das interne Treiben nochmal zu, doch der beinahe schon flehende Duktus in den täglich neuen Offensiven kontakarierte die traditionelle Erwartungshaltung der Zuschauerschaft. Zudem war live auf einmal auch nicht mehr live, sondern on tape, weil Nachmittags aufgezeichnet, um munter zusammengeschnitten zu werden.

Und so kam es jetzt, wie es eigentlich kommen musste: Gottschalk mutierte live und trotz illustrer Gäste in einen lethalen Zustand. Immerhin können alle interviewten Gäste von sich behaupten, bei einem wohl einzigartigen Projekt dabei gewesen zu sein.

Die Harald Schmidt Show ereilte schon Ende März das gleiche Schicksal. Seine traditionelle Late-Night Show wurde nach der donnernden Rückkehr „in den Kreis der Familie“ von der Programmleitung des selbsternannten Kuschelsenders endgültig in die Geschichte Privatfernsehens verabschiedet. Dabei hatte die Redaktion sich des gefährlichen Themas digitale Interaktion mit dem Zuschauer fast schon rührend, weil so behutsam ingebunden, angenommen.

Wer erinnert sich angesicht dessen eigentlich an Kerner, der bei SAT.1 ohne weitere Worte abgesetzt wurde. Schon Mitte Dezember 2011 kam das engültige Aus für eine Talkshow mit Verbraucherthemen, die zuletzt irgendwo zwischen dem Konzept der ursprünglichen Version im ZDF, stern.TV, und akte 20.12 herumeierte. Deren Meta-Redaktion rund um Moderator Ulrich Meyer wird womöglich irgendwann einen Verdienstorden Medienpreis verliehen bekommen, angesichts solcher investigativen Arbeit in der toughen Welt zwischen Verbraucherabzocke und Verliereranwaltschaft. Es wirkt fast schon, wenn auch unfreiwillig, komisch, wenn die TV-Ermittler gerade dort einheizen eingreifen, wo die Verbraucher, die teilweise von Konsum und Gier getrieben, besonders und nicht zu knapp in Online-Fallen tappen. Das passiert ausgerechnet in jener Sphäre, in der sich alle vermeintlich allzu gut auskennen: Im Web, wo die digitale Freiheit für den mündigen Zuschauer so grenzenlos scheint.

Inzwischen kommt mir Art und Weise fast schon beschwörend vor, wie die ZDF-Sportredaktion für das aktuelle sportstudio immer wieder Samstags ausgerechnet YouTube als Kanal der Wahl per Trailer einbindet. Die Methode, Zuschauerbindung zu betreiben, indem die Amateure eigene Videos hochladen, um dann, ins Studio eingeladen, gegen die Fußball-Towand schießen zu können, ist nicht zu kritisieren, weil sie ihren Zweck erfüllt. Allerdings wirkt es schon wieder fast paradox, wenn analog dazu in Auftragsproduktionen von Unterhaltungsredaktionen mühsam, da gewollt, gerade noch erkennbar, bei Szenen mit Bildschirmansichten solche Tools wie Browser, Suchmaschinen á là Google und Video-Plattformen im Stil von YouTube optisch nachgebaut werden.

Eine traditionell konservative Erwartungshaltung an den Format-Fortschritt im Programmfernsehen wird eben nicht im Handumdrehen und per Dekret social. Warum ich dies so betrachte? Weil das Fernsehen jahrzehntelang und nicht nur in den Redaktionen und Intendanzen der öffentlich-rechtlichen Sender Programm konzipiert haben, die erstmal allen Zuschauern gefallen sollten, sondern die schlichtweg mit Fokus höchstmöglicher Einfachheit bei niedrigsten Einstiegsmomenten von oben herab verbreitet wurden.

Und weil umgekehrt solche mutig angegangenen Prozesse zur Entwicklung eines neuen Typus Fernsehens per Impetus Richtung Social Web nicht mal eben so entstanden sind, sondern mutig durchdacht und konsequent umgesetzt werden. So wirkte es im Nachhinein zumindest von außen betrachtet, etwa beim ZDF in der Redaktion Das kleine Fernsehspiel, in ZDF_neo, aber auch bei ProSieben. Die stärkste und wirksamste Initiative geht ohnehin von externen Produktionsgesellschaften sowie einzelnen Moderatoren aus, die inzwischen sogar Blogs betreiben, um sich wirksam zu vermarkten, dabei auch klug fokussiert im Dialog mit dem Zuschauer.

Einst – und berechtigt – war das Fernsehen ein Massenmedium. Der Hunger nach Social-Media-Aktivitäten zur Annährung, ja der Rückbesinnung auf die Zuschauer zeigt das Dilemma, in dem das TV als monodirektionales Medium steckt. Das Publikum ist und versteht auch sich selbst eben nicht als Quotenbringer für die Werbeumfeldgestaltung – mit anderen Worten: die Formate als Produkte der Sender -, sondern als anspruchsvoller, heterogener Dialogpartner, bei jeglicher Tausenderkontakt-Ansprache.

Das Fernsehen mit dem Produkt Programm, und darunter fallen etliche Formen herkömmlicher Talkshows, ist eben doch Gefangener seines konstruierten Bildes im Mix aus Realität und Fiktion, qua des mitunter erheblich angestaubten Programmauftrags für Bildung, Information, Unterhaltung, in Vielfalt unterschiedlicher politischer, religiöser, wissenschaftlicher und künstlerischer Meinungen, Richtungen und Strömungen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene soll sichtbar werden.

– Ich meine: Fernsehen war gestern. Um im ehemaligen Gottschalk-Duktus zu bleiben: Wetten, dass es Fernsehen in der jetzigen Form in ein paar Jahren nicht mehr geben wird?! TV-Macher, gebt fein acht: Seitens der nächsten Generation wird gewiss nur noch digital mitgemacht. 

[Update, 20.04.2012] Ein eher sophisticated Essay hat Malte Welding dazu übrigens schon im März für die Berliner Zeitung verfasst: Stirbt das Land vor Langeweile? – Nun: ja.

Wie „Unser Song für Baku“ ein Statement für Freiheit in Aserbaidschan werden kann #esc12

Baku vor ESC12
Foto: arte

Auf der Twitter-Seite des aserbaidschanischen Staatspräsidenten Ilham Aliyev steht in großen Buchstaben: “ We turn initiatives into reality!“ – Wir machen aus Vorhaben Wirklichkeit. Das wohl bedeutendste Projekt in der noch jungen Geschichte des Landes am Kaukasus, das seit 20 Jahres unabhängig ist, wird ganz offenbar Austragung des European Song Contest 2012 (ESC12) in der Hauptstadt Baku sein. Doch das Mega-Ereignis, als Gemeinschaftsproduktion der federführenden European Broadcasting Union (EBU) in weite Teile Europas übertragen, hat Schattenseiten, die so gar nicht zu dem erstaunlichen Entertainment Joint-Venture zwischen der öffentlichen-rechtlichen Gemeinschaft der Fernsehanstalten ARD sowie den Medienunternehmen ProSieben und Brainpool (TV-Produktiongesellschaft, u.a. Stefan Raab) passen. Immerhin lagen sich sich die Partner beim öffentlich überraschenden, doch offenbar strategisch ins Kalkül gezogenen Lena-Erfolg bislang fast zwei Jahre über so viel Euphorie und kommerziellen Erfolg in den Armen.

Baku vor ESC12
Foto: arte

Die Tränen des Glücks verschleiern hoffentlich nicht allzu sehr den Blick auf das Wesentliche: Nämlich eine dauerhafte Demut angesichts persönlicher Freiheit, einer Freiheit der Meinung, der Rede und des Ausdrucks von Protest gegen herrschende politische Situationen. Schließlich gehört auch Freiheit der journalistischen Berichterstattung dazu, samt deren Vielfalt. Neben allem Geschäftsbetrieb einiger ESC-Beteiligten für ständige Unterhaltung bedeutet es darüber hinaus Verantwortung, Informationen beizusteuern. Und dies mehr, als bloß die Facette, junge Künstler-Talente ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren fördern und kommerziell auszuschöpfen. Das ist eine echte Gelegenheit zu Verantwortung und Positionierung neben der gegenwärtigen Omnipräsenz von Musik, Casting und Voting – all over the nations, allover the world. Denn im gleichen Atemzug bedeutet dies konkret die reelle Chance, bei großer Aufmerksamkeit auf unerträgliche Situationen hinzuweisen und dabei zu helfen, diese zu verbessern.

Baku vor ESC12
Foto: arte

So wie die des Studenten Elnur Majidli, der von Frankreich aus gegen die Regierung in seiner Heimat vorzugehen versucht. Die letzten Wahlen dieser Regierung hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), welche als unabhängiges Gremium die politische Partizipation und Prozesse in den Mitgliedstaaten überwacht, als nicht frei bezeichnet:

„Certain conditions necessary for a meaningful and competitive election were lacking in these elections. The fundamental freedoms of peaceful assembly and expression were limited and a vibrant political discourse facilitated by free and independent media was almost impossible.“

Dem Blogger Majidli drohen  in seiner Heimat eine Anklage wegen Aufrufs zum Umsturz und bis zu zwölf Jahre Haft, weil er in seinem Blog die Bevölkerung in Aserbaidschan dazu aufforderte, auf Demonstrationen Widerstand gegen das Regime zu leisten. Der deutsch-französische Fernsehsender arte berichtete jetzt über den engagierten Blogger, der inzwischen in Frankreich um politisches Asyl ersucht hat und Schutz im Maison des Journalistes in Paris erhält.

Angesichts der herrschenden Rahmenbedingungen würde es den gemeinsamen Anstrengungen des Dreigestirns ARD / ProSieben / Brainpool für mehr gute Unterhaltung außerordentlich gut zu Gesicht stehen, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und etwas zu unternehmen in Sachen Engagement und Förderung der Jugend vor Ort. Das hat als Initialzündung für Oslo gut geklappt, in Düsseldorf – wenn auch bombastisch selbstverliebt – auch noch. Nun hoffe ich, dass daraus für Baku 2012 eine echt zündende Bewegung entsteht.

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Informationen zu Land und Situation gibt dieser Beitrag des Magazins „Mit offenen Karten„:

– Quelle: arte via YouTube